John Irving

Gottes Werk und Teufels Beitrag

1985
image

John Irvings Roman, der im Original «The Cider House Rules» heisst, beginnt im ländlichen Maine, genauer in einem Waisenhaus Namens St. Cloud’s in 1930er-Jahren. Dort arbeitet Dr. Wilbur Larch nach seinen eigenen Regeln, die besagen, dass keine Frau gezwungen werden dürfe, ein Kind zur Welt zu bringen, das sie nicht will. Aus diesem Grund arbeitet Dr. Larch nicht nur als Geburtshelfer, sondern, wenn es die Notlage erfordert, auch als Abtreibungsarzt…

So beginnt John Irvings fulminanter Epos über die Rechte der Frau im frühen 20. Jahrhundert in den USA. Obwohl der Roman zu einer Zeit spielt, in der die Abtreibung noch verboten war, ist Irvings Roman bis heute aktuell und brisant geblieben.
Wer Irvings Romane kennt, weiss, sie sind gespickt mit skurrilen Figuren und noch skurrileren Begebenheiten. Das ist auch in diesem wunderbaren Werk nicht anders. Die gewohnte Mischung aus gewalttätigen Exzessen und urkomischen, zuweilen grotesken Szenen wird von Irving derart balanciert wiedergegeben, dass die Glaubhaftigkeit zu keiner Zeit leidet.

Irving hat ein Buch über Opfer geschrieben, ohne jemals larmoyant zu werden. Das Buch strahlt einen unterschwelligen Humor und eine erzählerische Kraft aus, die jeden Leser und jede Leserin mitreissen wird.
John Irving ist kein experimenteller Romancier, vielmehr ist sein Erzählstil sehr klassisch und konventionell. Dies macht er jedoch mit seinen originellen und einfallsreichen Handlungsverläufen mehr als wieder wett – und so führt die Handlung immer wieder zielstrebig in die Irre…

Für mich ist John Irving der Charles Dickens des 20. Jahrhunderts.
Das Werk wurde später auch verfilmt – sehr gut möchte ich hier noch anfügen – auf der Grundlage des Drehbuches von John Irving selber, der dafür einen Oscar erhielt…

Homer Wells lebt seit seiner Geburt im Waisenhaus St. Cloud’s in Maine. Da er nie adoptiert wurde, wird er zum Schützling von Dr. Wilbur Larch, dem äthersüchtigen Arzt und Leiter des Kinderheimes. Dr. Larch kümmert sich um Mütter in Not, indem er sie entweder von ihren ungewollten Babys entbindet und diese im Waisenhaus aufnimmt oder illegale Abtreibungen vornimmt.

Homer Wells wird mit den Jahren von Dr. Larchs geschult und zu seinem Assistenten ausgebildet. Doch so gerne Homer auch bei den Entbindungen hilft, so falsch findet er die Abtreibungen.
Als eines Tages die hübsche und ungewollt schwanger gewordene Candy Kendall mit ihrem Verlobten Wally Worthington vor den Toren St. Cloud’s steht, verändert dies Homers Leben nachhaltig – und auf einmal scheint ihm die weite Welt ausserhalb des Waisenhauses äusserst verlockend…

Originaltitel: The Cider House Rules

Originalverlag: William Morrow & Company, New York City
Erstveröffentlichung: Juni 1985
Sprache: Englisch
Land: USA


Meine Ausgabe

Übersetzung ins Deutsche durch: Thomas Lindquist

Verlag: Diogenes Verlag, Zürich
Nummer: detebe 21837
Jahr: 1990
Verarbeitung: Taschenbuch
Einbandgestaltung: Heinz Ita
Seiten: 833

Verarbeitungsqualität (1-10): 5

ISBN: 3-257-21837-0

Literarische Gattung: Bildungsroman

Literarischer Anspruch (1-10): 6

Handlungsorte: Maine, USA

Thema: Sexuelle Emanzipation

Schlagwörter: Abtreibung / Kinheit / Kinder / Eltern / Apfelplantage / Liebe / Notlage / Schutz / Arzt / Waisenjunge

02. März 1942 in Exeter, New Hampshire, USA

John Irving ist ein US-amerikanischer Drehbuchautor und Schriftsteller, der vor allem durch seine umfangreichen Romane und Kurzgeschichten bekannt ist.

Irvings Werke zeichnen sich durch mitreissende Handlungen, skurrile Charaktere und einen zuweilen makaberen Humor aus. Irving behandelt in seinen meist sehr umfangreichen Romanen oft zeitgenössische Themen.
Irvings Erstlingswerk erschien 1968 unter dem Titel «Setting Free the Bears» («Lasst die Bären los!»). Den endgültigen literarischen Durchbruch schaffte er jedoch erst 1978 mit dem Werk «The World According to Garp» («Garp und wie er die Welt sah»).

John Irving gehört zu den erfolgreichsten Schriftsteller der Gegenwart und wurde mit zahlreichen Literaturpreisen sowie einem Oscar für sein Drehbuch zum Film «Gottes Werk und Teufels Beitrag» ausgezeichnet.

Image

John Irving bei einer Lesung in Köln 2010 (Foto: © Elke Wetzig / CC-BY-SA))

Image

Terry McMillan

Ab durch die Mitte

1989
image

„Ab durch die Mitte“ beschreibt den täglichen Beziehungskampf zwischen den beiden Afroamerikanern Zora und Franklin, die in einem Backsteinbau mitten in Brooklyn leben. Beide haben ihre Träume und Ziele und viele gescheiterte Beziehungen hinter sich, womit zwei Menschen aufeinander treffen, die sich lieben, verstehen, aber gleichzeitig auch unsäglich auf die Nerven gehen.

Terry McMillan hat ein unglaublich gutes Gespür fürs richtige Timing. Sie lässt vor dem Auge des Lesers eine Beziehungsgeschichte entstehen, die es in sich hat und voller Zündstoff sowie tiefer ehrlicher Gefühle steckt.
Der Roman ist sehr spannend und mitreissend geschrieben, wobei McMillan eine clevere Erzählweise nutzt. Die Kapitel sind jeweils abwechslungsweise aus Sicht von Zora und Franklin geschrieben, was dem Ganzen eine sehr gute Dynamik verleiht und zusätzlich dafür sorgt, dass es kein Frauen- oder Männerbuch geworden ist, sondern effektiv eine Beziehungsgeschichte.
McMillan hat es mit pointierter Sprache beeindruckend verstanden, den ganz normalen Alltagswahnsinn in eine dramatische und spannende Geschichte zu verwandeln, in der sich jeder und jede wiederfinden kann. So ist „Ab durch die Mitte“ zu einem eindrücklichen Amerika-Roman der etwas anderen Art geworden…

Terry McMillan gehört für mich, vor allem mit ihren frühen Werken, neben Toni Morrison, zu den lesenswertesten afroamerikanischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. „Ab durch die Mitte“ sowie ihr Erstlingswerk „Mama“ gehören zu meinen absoluten Lieblingswerken der US-amerikanischen Literatur.

Zora Banks ist Lehrerin und hofft, eines Tages als bekannte Sängerin Karriere zu machen. Franklin Swift dagegen hat gerade eine gescheiterte Ehe hinter sich und ist unzufrieden mit seinem Job auf dem Bau – sein Traum ist es, sich irgendwann selbständig zu machen. Die beiden treffen mitten in Brooklyn aufeinander und verlieben sich.
Es entwickelt sich eine für beide überraschende Beziehung voller Hochs und Tiefs. Eine Beziehung, die von beiden viel fordert und in der Liebe, Respekt und die Lasten der Vergangenheit sie immer wieder auf eine harte Probe stellen…

Originaltitel: Disappearing Acts

Originalverlag: Viking Penguin, New York
Erstveröffentlichung: 1989
Sprache: Englisch
Land: USA


Meine Ausgabe

Übersetzung ins Deutsche durch: Oliver Huzly

Verlag: Rogner & Bernhard, Hamburg
Jahr: 1993
Verarbeitung: Blauer Pappeinband mit mauvefarbenem Vorsatzpapier, Fadenheftung, Schutzumschlag und Lesebändchen
Einbandgestaltung: Brita Lembke, Hamburg
Seiten: 492

Verarbeitungsqualität (1-10): 7

ISBN: 3-8077-0272-5

Literarische Gattung: Roman / Gesellschaftsroman / Beziehungsroman

Literarischer Anspruch (1-10): 6

Handlungsorte: New York City, USA

Thema: Beziehung Mann / Frau

Schlagwörter: Leben / Ziele / Hoffnungen / Träume / Beziehung / Mann / Frau / Gewalt / Liebe / Gemeinsamkeit / Sex

18. Oktober 1951 in Port Huron, Michigan, USA

Terry McMillan ist eine US-amerikanische Autorin. Sie studierte Journalismus in Berkeley und erlangte den Master of Fine Arts im Bereich Film an der Columbia University.

McMillan thematisiert in ihren Romanen das Leben von jungen afroamerikanischen Frauen in den USA. Beziehungen, das Singledasein sowie die Identitätssuche sind hierbei die zentralen Themen. Das Sichtbarmachen der afroamerikanischen bürgerlichen Identität, ist Terry McMillan ein persönliches Anliegen, welches sie nicht nur mit ihren eigenen Werken, sondern auch mittels ihrer Unterstützung und Förderung anderer Autoren anstrebt.

Terry McMillan lebt heute in Los Angeles.

Image

© Foto Jerry Bauer / Rogner & Bernhard Verlag

Image

Albert French

Holly

1995
image

Ein Roman, bei dem einem die Luft weg bleibt.
So harmlos und beschaulich der Anfang der Geschichte auch ist, entwickelt sie sich mit fortlaufender Handlung zum Thriller. Frenchs unglaublich atmosphärische Sprache und die ausgezeichneten und authentischen Dialoge lassen den Leser nicht mehr los und ziehen einen mit in den Strudel der Ereignisse.
Es ist eine Geschichte über Rassismus, über Freundschaft und Verrat. Und leider wohl auch eine Geschichte, die so oder ähnlich heute noch in Teilen der USA zum Alltag gehört.
Für mich ein absolutes Meisterwerk der Gegenwartsliteratur. Muss man gelesen haben!

Wir schreiben das Jahr 1944. Die 19-Jährige Holly lebt in einem kleinen Nest in North Carolina, zusammen mit ihrer Mutter und ihrem aus dem 2. Weltkrieg zurückgekehrten und traumatisierten Bruder, der sein Zimmer nicht mehr verlässt.
Holly vertreibt sich die Zeit mit ihrer Freundin Elsie. Zusammen ziehen sie durch Bars und lassen sich von Matrosen ihre Drinks bezahlen.
Dann, eines Tages, ändert sich ihr Schicksal. Sie trifft auf Elias, einen ebenfalls aus dem 2. Weltkrieg zurückgekehrten Soldaten. Sie fühlt sich zu ihm hingezogen. Die beiden verlieben sich und haben nun ein ernsthaftes Problem, denn Elias ist schwarz und niemand in Supply, North Carolina wird eine solche Verbindung zwischen einer weissen Frau und einem Schwarzen dulden. Der Versuch, alles geheim zu halten, misslingt. Sie werden verraten, und nun beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit…

Originaltitel: Holly

Originalverlag: Viking Penguin, New York
Erstveröffentlichung: 1995
Sprache: Englisch
Land: USA


Meine Ausgabe

Übersetzung ins Deutsche durch: Bettina Münch

Verlag: Rogner & Bernhard Verlag,
Jahr: 1996
Verarbeitung: Bedruckter Pappeinband mit Fadenheftung und farbigem Vorsatzpapier.
Einbandgestaltung: Michaela Booth
Seiten: 402

Verarbeitungsqualität (1-10): 7

ISBN: 3-8077-0342-X

Literarische Gattung: Roman / Gesellschaftsroman

Literarischer Anspruch (1-10): 7

Handlungsorte: North Carolina, USA

Thema: Rassismus

Schlagwörter: Afroamerikaner / Weisse / Südstaaten / Liebe / Krieg / Leiden / Fremdheit / Flucht / Familie

05. Juli 1943 in Pittsburgh, Pennsylvania, USA

Albert French ist ein amerikanischer Schriftsteller und Verleger.
Seine Werke konzentrieren sich vor allem auf das ländliche Leben und Schicksal afroamerikanischer Menschen.
Frenchs Werk zeichnet sich durch eine unverwechselbare Sprache und einen markanten persönlichen Stil aus.

Image

© Agniezka Trzos

Marcello Fois

Die schöne Mercede und der Meisterschmied

Ein sardischer Roman (2009)
image

Familiengeschichten gibt es wie Sand am Meer. Was macht diesen Roman besonders und so einzigartig?
Zum einen spielt er in einer ganz eigenen Welt, der sardischen Welt. Marcello Fois, selber in Nuoro geboren, kennt diese Welt und versteht es meisterhaft uns in dieses alte Sardinien zu entführen. Da verschmelzen Gerüche mit Stimmungen und alten Geschichten.
Zum anderen habe ich schon lange keinen Gegenwartsroman mehr gelesen, der eine so schöne und beeindruckende Sprache zu bieten hat. Eine Sprache, die viele Bilder im Kopf des Lesers entstehen lässt und dadurch ein wahres Panoptikum zu entfachen versteht. Geschuldet ist das sicherlich auch der hervorragenden Übersetzungsarbeit von Monika Lustig, die zudem ein äusserst aufschlussreiches Nachwort verfasst hat.
Originell ist die Erzählweise. Marcello Fois beginnt zu erzählen und bricht dann plötzlich ab, um die Geschichte von einer früheren Position aus neu aufzurollen, nur um dann nochmals die Perspektive zu wechseln und die Geschehnisse aus einem anderen Blickwinkel zu Ende zu erzählen. Das klingt jetzt verwirrend, ist es aber nicht. Vielmehr gelingt es ihm, mit dieser Krebsgang-Erzählweise Licht ins Dunkle zu bringen und deutlich zu machen, dass nicht alles klar ist, was klar scheint…
Der Roman ist tragisch und dies im Dante’schen Sinn, auf den Fois sich auch bezieht, der Dramatik werden gekonnt sehr lyrische und wunderschönen Momente gegenübergestellt.

Wir schreiben das Jahr 1889. Nuoro liegt am Fusse des Monte Ortobene, im Herzen Sardiniens. Hier treffen die beiden herkunftslosen Waisen Michele Angelo und Mercede aufeinander. Vom ersten Augenblick an ist beiden klar, dass sie für einander bestimmt sind. Sie heiraten und der jungen Familie Chironi ist das Glück hold. Nach den Zwillingen Pietro und Paolo kommen in den darauffolgenden Jahren Gavino, Luigi Ippolito und Marianna zu Welt.
Michele Angelo bringt es als Schmied zu Ansehen und kleinem Wohlstand, nicht ohne den Neid der Nachbarn zu wecken.
Doch alsbald wird das jähe Glück durch einen schrecklichen Doppelmord zerstört. Die Ermordung der Zwillinge wird zum Drehpunkt der Existenz der Familie Chironi. Ein Schatten legt sich über alles, der noch verstärkt wird durch die Ereignisse des 1. Weltkrieges und die nachfolgend aufblühende faschistische Macht in Italien, der die Chironis gefangen hält und ihr restliches Leben bestimmen wird…

Originaltitel: Stirpe

Originalverlag: Giulio Einaudi Editore, Turin
Erstveröffentlichung: 2009
Sprache: Italienisch
Land: Italien


Meine Ausgabe

Übersetzung ins Deutsche durch: Monika Lustig

Verlag: Eichborn, Frankfurt am Main
Reihe: Die Andere Bibliothek (Band 318)
Jahr: 2011
Verarbeitung: Hellbrauner Pappeinband in Flechtoptik mit Fadenheftung, hellbraunem Vorsatzblatt und offenem Kartonschuber.
Einbandgestaltung: Susanne Reeh / Cosima Schneider
Limitierte Originalausgabe: Nr. 2817
Seiten: 310

Verarbeitungsqualität (1-10): 9

ISBN: 978-3-8218-6243-9

Literarische Gattung: Roman / Gesellschaftsroman / Historischer Roman

Literarischer Anspruch (1-10): 7

Handlungsorte: Sardinien, Italien

Thema: Familiengeschichte

Schlagwörter: Liebe / Tod / Schicksal / Familiengeschichte / Tradition / Sardinien / Weltkrieg / Verlust / Brüder / Kinder

20. Januar 1960 in Nuoro auf Sardinien, Italien

Marcello Fois ist ein italienischer Schriftsteller, der hauptsächlich durch seine Kriminalromane Bekanntheit erlangte.
Fois gründete zusammen mit Carlo Lucarelli und Loriano Macchiavelli die Gruppe 13, eine Literaturkooperative norditalienischer Autoren.
Fois’ Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt.
Marcello Fois lebt heute mit seiner Familie in Bologna.

Image

© Dread83 via Wikipedia Italien

Marjana Gaponenko

Wer ist Martha?

2012
image

Die in der Ukraine geborene Schriftstellerin Marjane Gaponenko hat dieses bemerkenswerte Buch auf Deutsch verfasst. Sie schreibt seit ihrem sechzehnten Lebensjahr in deutscher Sprache, und dass sie diese Sprache liebt, ist jedem Satz deutlich anzumerken. Gaponenko spielt mit den Worten, mit Metaphern, und konstruiert neue Bedeutungen, wie ich sie in dieser Originalität sehr lange nicht mehr gelesen habe.

Das Werk überzeugt auch auf psychologischer Ebene. Wie sich die erst 31-jährige Autorin in ihre 96-jährige Hauptfigur hineinversetzt, ist grossartig und urkomisch. Überhaupt strotzt der Roman vor vitaler Lebensfreude - was angesichts der Thematik erstaunen mag. Die Freude, mit der der alte Ornithologe sich seine Herzenswünsche zu erfüllen getraut, ist mit viel spitzbübischem Humor und Wärme erzählt. Diese ehrliche Freude der Hauptfigur überträgt sich auch auf den Leser.

Solche Werke sind in dieser Perfektion nur ganz selten anzutreffen. Ein Roman über die letzten Dinge, mit einer Phantasie und einem grandiosen Wortwitz erzählt. Ich bin mir sicher, dass dies eines der Bücher sein wird, das man auch in hundert Jahren noch kennen wird…

Luka Lewadski, ein 96-jähriger Ornithologe aus der Ukraine, hat sich als emeritierter Professor der Zoologie sein Leben lang mit der Erforschung der Vögel beschäftigt. Heute eröffnet ihm sein Arzt, dass er Krebs und nur noch eine kurze Lebenserwartung habe.
Lewadski denkt nicht daran, seine kurze Zeit, die ihm noch bleibt, in Krankenhäusern zu vergeuden. Er will sein Leben zum Schluss richtig geniessen. Kurzentschlossen reist er nach Wien, wo er als Kind mit seiner Mutter für eine kurze aber prägende Zeit gelebt hatte. Er steigt im noblen Hotel Imperial ab und residiert wie ein König in einer teuren Suite. Hier träumt er von vergangenen Zeiten, lernt interessante Menschen kennen und schüttet dem zuvorkommenden Hoteldiener Habib sein Herz aus. Langsam beginnt Lewadski sich Sorgen zu machen, denn noch sind keine Symptome seiner Krankheit aufgetaucht und seine Mittel sind begrenzt…

Originaltitel: Wer ist Martha?

Originalverlag: Suhrkamp Verlag, Berlin
Erstveröffentlichung: 2012
Sprache: Deutsch
Land: Deutschland

Meine Ausgabe

Verlag: Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main
Jahr: 2013
Verarbeitung: Lindengrüner Leineneinband mit Prägung und Leimbindung. Rotes Vorsatzpapier.
Einbandgestaltung: Philipp Andersson
Seiten: 237

Verarbeitungsqualität (1-10): 5

ISBN: 978-3-7632-6635-7

Literarische Gattung: Roman

Literarischer Anspruch (1-10): 7

Handlungsorte: Ukraine / Wien, Österreich (Hotel Imperial)

Thema: Alter / Tod

Schlagwörter: Sterben / Erinnerungen / Musik / Vögel / Vogelkunde / Mutter / Freundschaft / Abschied

06. September 1981 in Odessa, Ukraine

Marjana Gaponenko schreibt seit ihrem sechzehnten Lebensjahr auf Deutsch. Sie studierte Germanistik in Odessa und verfasst Lyrik, Erzählungen und Romane.
Gaponenkos Werke zeichnen sich vor allem durch eine sehr durchkomponierte und originelle Sprache aus.
Für ihren Roman „Wer ist Martha?“ erhielt sie 2013 den Adelbert-von-Chamisso-Preis.

Image

cc 2013 Fotograf: Harald Krichel via Wikipedia

Sie haben das Buch gelesen und sich nach der Lektüre gefragt: Wer zum Geier ist denn nun Martha?

Kein Problem, hier ist die Auflösung:

Richard Ford

Kanada

2012
image

Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Richard Ford ist mit seinem Werk „Kanada“ ein ganz grosser Wurf gelungen. Selten habe ich in den vergangenen Jahren eine spannendere, derart gut durchkomponierte und mitreissende Geschichte gelesen.

Die Handlung wird aus der Sicht des Sohnes Dell in Rückblenden erzählt. Während Fords Sprache recht konventionell daherkommt, gefällt mir vor allem sein Schreibstil. Dieser Krebsgang, mit der er die Geschichte vorantreibt, um gleich danach wieder in die Handlung zurückzukehren, um das Ganze zu reflektieren, gibt der Story ihre Lebendigkeit und Dynamik.
Das Spiel zwischen normal und aussergewöhnlich, zwischen Gut und Böse spielt Richard Ford virtuos. Dabei werden Stimmungen und Emotionen derart gut dosiert eingesetzt, dass man als Leser gebannt dem Ich-Erzähler folgt und kaum zu atmen wagt. Mit Hilfe einfacher Metaphern wie beispielsweise der Weite Kanadas, die der Verlorenheit des Protagonisten gegenübergestellt wird, gelingt es Ford eindrücklich, mit den Bildern zu spielen und sie zu einem einzigen stimmigen Bild zu verweben.

Für mich gehört Richard Ford, neben Philip Roth, schon lange zu den bedeutendsten Gegenwartsautoren Nordamerikas - und mit diesem Werk hat er einmal mehr deutlich gemacht, warum.

Kurz und gut, „Kanada“ ist ein hervorragender Roman, der alles bietet, was grosse Literatur ausmacht.

Dell und seine Zwillingsschwester Berner sind fünfzehn und wohnen mit ihren Eltern in Great Falls, Montana - eine ganz normale Familie in den 1960er-Jahren. Diese Normalität wird unvermittelt zerstört, als die Eltern eine Bank überfallen.
Am Tag danach ist nichts mehr wie zuvor – die Mutter will mit den beiden Kindern ihren Mann verlassen. Sie sind noch beim Koffer packen, als die Polizei erscheint und die Eltern festgenommen werden. Dell und seine Schwester sind auf sich allein gestellt. Während Berner mit unbekanntem Ziel abhaut, wartet Dell im elterlichen Wohnhaus, bis er von Mildred, einer ehemaligen Arbeitskollegin seiner Mutter abgeholt wird. Mildred bringt Dell über die Grenze nach Kanada zu ihrem Bruder Arthur.
Hier, mitten in der weiten Ebene Saskatchewans ist Dell nun mehr oder weniger auf sich allein gestellt und hat viel Zeit, um über sich, seine verschwundene Zwillingsschwester und seine gescheiterten Eltern nachzudenken. Er lernt, dass es keine Unschuldigen geben kann, dass vieles im Leben dem Zufall geschuldet ist, und dass es ohne Gnade auch keine Zukunft gibt…

Originaltitel: Canada

Originalverlag: Ecco Press, New York City
Erstveröffentlichung: 2012
Sprache: Englisch
Land: USA

Meine Ausgabe

Übersetzung ins Deutsche durch: Frank Heibert

Verlag: Deutscher Taschenbuchverlag (DTV)
Jahr: 2014 (2. Auflage)
Verarbeitung: Taschenbuchausgabe mit Leimbindung
Einbandgestaltung: Peter-Andreas Hassiepen
Seiten: 464

Verarbeitungsqualität (1-10): 4

ISBN: 978-3-423-14309-7

Literarische Gattung: Roman / Entwicklungsroman

Literarischer Anspruch (1-10): 6

Handlungsorte:

Great Falls, Montana, USA
Saskatchewan, Kanada

Thema: Banküberfall / Coming of Age

Schlagwörter: Familie / Bankräuber / Verlassenheit / Jugend / Unschuld / Schuld / Zwillinge / Schach / Bienenzucht / Vater / Mutter / Geschwister / Lehrer / Neuanfang / USA / Kanada / Grenze / Weite / Mord

16. Februar 1944 in Jackson, Mississippi, USA

Richard Ford ist ein amerikanischer Schriftsteller.
Ford begann Hotelmanagement zu studieren, wechselte dann aber zum Fach Englisch, welches er erfolgreich abschloss und einige Jahre unterrichtete.
1976 veröffentlichte Ford seinen ersten Roman „A Piece of My Heart“.
Richard Ford wird zu den Vertretern des „dirty realism“ gezählt, welche sich durch eine realistische Handlungsdarstellung sowie durch eine schmucklose Sprache auszeichnen.
Richard Ford gehört heute zu den bedeutendsten Autoren Nordamerikas und wurde sowohl mit dem Pulitzer-Preis, wie auch dem PEN/Faulkner-Award ausgezeichnet.

Image

cc 4.0 / Das Foto wurde mit freundlicher Genehmigung durch Rodrigo Fernandez zur Verfügung gestellt: Richard Ford 2014 in Miami

Taiye Selasi

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

2013
image

Ich glaube nicht, dass wir in einer Zeit leben, von der man irgendwann sagen wird, es sei grosse Literatur entstanden.
Umso erfreulicher ist es dann jeweils, wenn man auf solche Perlen wie „Ghana must go“ stösst.
Zugegeben, die ersten sechzig Seiten muten etwas wirr und konzeptlos an, ebenso die Sprache, die gestelzt suchend umhertappt. Aber dann findet die Autorin ihre Sprache und der Leser wird mit einer mitreissenden Familiengeschichte konfrontiert, die es in sich hat.
Eine afroamerikanische Familie, auf dem Weg nach oben, wird vom Schicksal ausgehebelt und zerbricht an der gnadenlosen Realität der angloamerikanischen Welt.
Die Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, was zuweilen etwas verwirren kann, mit der Zeit jedoch sogar Spass macht.
Die sprachlichen Beschreibungen, vor allem bei Frauenfiguren, sind unglaublich prägnant und auf den Punkt gebracht. Zudem hat Selasi ein gutes Gespür für den dramatischen Aufbau. Und das alles ohne kitschig oder gar melodramatisch zu werden. In ruhigen, kraftvollen Bildern wird vor dem geistigen Auge ein Psychogramm verschiedener Familienangehöriger ausgebreitet, das mich tief beeindruckt und zur Überzeugung gebracht hat, eines der besten Büchern gelesen zu haben, das mir in der Gegenwartsliteratur der letzten zwanzig Jahre untergekommen ist.

Es ist die Geschichte von Fola, ihrem Mann Kwaku und den vier Kindern Olu, Kehinde, Taiwo und Sadie.
Kwaku und Fola stammen beide aus Afrika, er aus Ghana, sie aus Nigeria. Kwaku hat in den USA Medizin studiert und es weit gebracht. Er gründet mit Fola eine Familie.
Dann wird Kwaku arbeitslos, und der amerikanische Traum fällt wie ein Kartenhaus zusammen. Er verlässt die Familie, flieht zurück nach Ghana.
Fola, die mit den Kinder alleingelassen und nahezu mittellos zurückbleibt, gibt ihr Bestes.
Die Kinder werden erwachsen und zum Teil erfolgreich, aber alle tragen sie ein Stück Verlassenheit in sich. Jeder versucht auf seine Art mit dem Schicksal fertig zu werden.
Sie sind in alle Himmelsrichtungen zerstreut, als sie eines Tages die unerwartete Meldung erreicht, dass Kweku in Ghana gestorben sei.
Fola und ihre Kinder reisen zur Beerdigung nach Ghana und finden endlich Zeit, die Vergangenheit aufzuarbeiten...

Originaltitel: Ghana Must Go

Originalverlag: Penguin Press, New York
Erstveröffentlichung: 2013
Sprache: Englisch
Land: USA


Meine Ausgabe

Übersetzung ins Deutsche durch: Adelheid Zöfel

Verlag: Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main
Jahr: 2013
Verarbeitung: Bedruckter Leineneinband mit Leimbindung und gelbem Vorsatzblatt mit Klappe.
Einbandgestaltung: Franziska Neubert
Seiten: 398

Verarbeitungsqualität (1-10): 5

ISBN: 3-7632-6644-9

Literarische Gattung: Roman / Gesellschaftsroman

Literarischer Anspruch (1-10): 7

Handlungsorte:

- Accra, Ghana
- Lagos, Nigeria
- London, England
- Boston, USA
- New York, USA

Thema: Familiengeschichte / Herkunft / Migration

Schlagwörter: Afrika / Vater / Tod / Karriere / Arzt / Lebensgeschichte / Einwanderer / Fremde / Integration

02. November 1979 in London, Grossbritannien

Taiye Selasi ist Schriftstellerin und Fotografin, in England geboren, aufgewachsen in Brookline, Massachusetts.
Sie bezeichnet sich selber als „Afropolitan“, womit eine Weltbürgerin mit afrikanischen Wurzeln gemeint ist. Ihr Schreibstil ist, trotz starken amerikanischen Einflüssen, geprägt von ihrer afrikanischen Herkunft.

Image

© Taille Selasi

Katja Petrowskaja

Vielleicht Esther

2014
image

Auch wenn sich die Geschichte zu Beginn wie eine normale Familiengeschichte liest, ist sie dies nur bedingt. Katja Petrowskaja bewegt sich gekonnt zwischen verschiedenen Gattungen, bricht die Regeln einer einfachen Familienbiografie und bewegt sich stetig zwischen märchenhafter, romanhafter und dokumentarischer Sprache.
Entstanden ist ein unglaublich ergreifendes Porträt verfolgter Familienangehöriger, die dank Petrowskajas wunderbaren Sprache zum Leben erweckt werden. Immer wieder wird die Handlung richtig spannend, zuweilen philosophisch und nicht selten historisch interessant.
Obwohl die finstersten Kapitel europäischer Geschichte thematisiert werden, wie das Warschauer Ghetto oder das Massaker von Babyn Jar, gelingt es der Autorin, durch ihre leichte, zuweilen mit humorigem Unterton versehene, Sprache, das Unerzählbare in Worte zu fassen. Diese Kontraste zwischen den tiefsten menschlichen Abgründen und ironischer Verspieltheit spiegeln sich nicht nur in der Sprache wieder, sondern sind auch als literarisches Konzept durch das ganze Werk hindurch erkennbar.

Für mich persönlich gehört „Vielleicht Esther“ zum Besten, das ich seit langem in der Gegenwartsliteratur gelesen habe. Vielleicht ist dies nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass Petrowskaja nicht in ihrer Muttersprache schrieb, sondern durch den „deutschen“ Filter ihre Familiengeschichte wie von einer anderen, distanzierteren Warte aus beobachtet und dadurch eine Unmittelbarkeit erzeugt, die schlicht atemberaubend ist.

Katja Petrowskaja nimmt die Leser mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Die Autorin erzählt ihre Familiengeschichte, indem sie den unzähligen Familienverästelungen durch Polen, Russland und die Ukraine folgt.
Petrowskaja beschreibt unter anderem das Leben ihres Urgrossvaters, der in Warschau ein Waisenhaus für taubstumme jüdische Kinder gegründet hatte und die Geschichte ihres Grossonkels, der 1932 ein Attentat auf den deutschen Botschaftsrat in Moskau verübte. Wir begleiten die Autorin bei der Recherche durch ein Jahrhundert jüdisch-europäischer Geschichte und landen schliesslich bei der Frage, wie eigentlich ihre Grossmutter geheissen habe, die von deutschen Soldaten in den Wirren des Krieges in Kiew erschossen wurde? - Vielleicht Esther…?

Originaltitel: Vielleicht Esther

Originalverlag: Suhrkamp, Berlin
Erstveröffentlichung: 2014
Sprache: Deutsch
Land: Deutschland


Meine Ausgabe

Verlag: Büchergilde Gutenberg, Frankfurt a. Main
Jahr: 2014
Verarbeitung: Beiger Leineneinband mit Lesebändchen und Leimbindung
Einbandgestaltung: Katja Holst
Seiten: 285

Verarbeitungsqualität (1-10): 5

ISBN: 978-3-7632-6734-7

Literarische Gattung: Roman / Familienroman

Literarischer Anspruch (1-10): 7

Handlungsorte:

- Kiew, Ukraine
- Moskau, Russland
- Warschau, Polen
- Berlin, Deutschland
- Österreich

Thema: Familie / Krieg

Schlagwörter: Familie / Verwandtschaft / Generationen / Juden / Verfolgung / Krieg / Tod / Vernichtung / Schicksal / Geheimnis

03. Februar 1970 in Kiew, UdSSR

Katja Petrowskaja ist eine in Kiew geborene und heute in Deutschland lebende Journalistin und Schriftstellerin.

Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl übersiedelte Petrowskaja 1986 nach Moskau. Sie studierte Literaturwissenschaft und Slawistik in Tartu (Estland).
1999 zog Petrowskaja nach Berlin, wo sie für verschiedene russische Medien tätig war und auch heute noch, mit ihrem Mann und zwei Kindern, lebt. Ihre Werke verfasst sie in deutscher Sprache und dies so erfolgreich, dass sie 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.

Image

CC 2.0 / Zur Verfügung gestellt durch: Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen - Katja Petrowskaja, 2017

Image


© 2015-2024 / Text & Design durch T.S. Tubai Kontakt